Ich hatte unlängst mein vierzehntes Lebensjahr erreicht, als Vater den Entschluss fasste unsere kleine Wohnung im Herzen New Yorks aufzugeben, um aufs Land zu ziehen. Er erhoffte sich dadurch dem oftmals turbulenten Stadtleben zu entfliehen und seiner Familie, um die er sich stets liebevoll zu kümmern wusste, ein friedlicheres Leben bieten zu können. Nur kurze Zeit später fanden meine Eltern auch schon ein Haus das zum einen ihrer Preisklasse entsprach und zum anderen genügend Platz besass, auf dem sich die jüngsten Sprösslinge der Familie wunderbar würden entfalten können. Mit dem Vorhaben, die Besichtigung des besagten Grundstücks in einem Familien – Wochenendurlaub unterzubringen, verschlug es uns nur eine Woche später nach Jerusalem´s Lot. Fürwahr besass dieser überschaubare Ort in den Bergen seinen ganz eigenen ländlichen Charme. Seit zweihundert Jahren, so formulierte es meine Mutter, fände man hier erholsame Ruhe vor dem Getümmel der Grossstadt. Doch barg diese scheinbar so idyllische Kleinstadt, so empfand ich es auf meine damals jugendliche Weise von Anfang an, seine dunklen Geheimnisse. Obgleich das wunderbare Fleckchen Erde auf Anhieb heiter und freundlich wirkte, sträubten sich mir beim Gedanken, hierher zu ziehen, aus unerfindlichen Gründen sämtliche Nackenhaare. Trotz allem freute ich mich auf das was vor mir lag und staunte nicht schlecht, als ich das alte Herrenhaus auf dem Hügel zum ersten Mal erblickte.
In der Tat waren wir alle sehr beeindruckt von dem im Kolonialstil erbauten und mit Liebe in Stand gehaltenen Grundstück, welches schon über ein Jahrhundert hinweg Wind und Stürmen trotzte. Auf Anhieb hatte Vater es ins Herz geschlossen, das geweisselte Mauerwerk aus starkem Eichenholz, die hohen Fenster mit Blick auf den nahegelegenen Friedhof und die liebevoll handgefertigte Veranda, die sich einmal um das ganze Haus erstreckte. Auch Mutter war begeistert und als man uns vorschlug, die wenigen Tage in Jerusalem´s Lot auf jenem weitläufigen Areal zu verbringen, nahmen wir das Angebot freudig an. Noch am selben Abend, es war an einem Donnerstag im Spätherbst 1983, bezogen wir das Darkriver – House auf dem Hügel, wobei wir sogleich übermütige Pläne darüber zu schmieden begannen, wie unser neues Leben auf dem Land aussehen sollte. Tatsächlich fühlten wir uns auf dem bis Dato verwaisten Anwesen auf Anhieb heimisch. Vor allem wir Kinder konnten es kaum erwarten unsere Zimmer nach Gutdünken selbst auszusuchen. Auch wenn die Gefahr bestand, dass wir nach dem Wochenendurlaub nie wieder hierher zurückkehrten, bereitete es der Familie fürwahr grosse Freude sich ein Leben in der Abgeschiedenheit von Jerusalem´s Lot auszumalen.
Nach ausschweifenden Überlegungen und einem kurzen aber hitzigen Streitgespräch mit den Geschwistern, beanspruchte ich das Zimmer am Ende des langen, düsteren Korridors im zweiten Stock. Noch heute erinnere ich mich lebhaft daran, wie bedrückend und unheimlich dieser Flur auf mein junges Gemüt zu wirken vermochte, an dessen Ende mein kleines aber feines Reich auf mich wartete. Von Anfang an strömte beim Passieren dieses Ganges ein beklemmendes Gefühl durch meinen Körper und dies sollte mitnichten vergehen, je öfter ich den Weg zu gehen hatte. Ja, ich fürchtete mich, auch wenn mir der blosse Menschenverstand unweigerlich preisgab, dass alles in bester Ordnung war. Und als ich zum ersten Mal meine eigenen vier Wände betrat, in der Mitte des grosszügig bemessenen Zimmers stehen blieb, rechnete ich bestimmt nicht mit jenem Schrecken, der mich sodann erwarten sollte. Mit einem ohrenbetäubenden Knall und einer brachialen Gewalt, welche die alten Wände des Hauses erzittern liess, schlug die Tür hinter mir zu. Natürlich versuchte mein Verstand sogleich in Windeseile nach einer rationalen Erklärung für dies Erlebnis zu suchen. So liess ich es unbedacht dem Durchzug anheimfallen, obgleich mir durchaus klar war, dass weder in meinem Zimmer noch im Rest des Hauses ein Fenster offen stand. Natürlich wäre ich auch bei dieser Theorie geblieben, hätte sich das bizarre Schauspiel nicht ein zweites und ein drittes Mal abgespielt. So wahr ich hier schreibe sah ich mit eigenen Augen, wie sich die Tür zu meiner Kammer von Geisterhand öffnete, nur um mit einem neuen ohrenbetäubenden ‚Rumms‘ wieder ins Schloss zu fallen. Lieber Leser, gewiss können Sie sich vorstellen, wie perplex ich war, als just nach den seltsamen Ereignissen Vater wütend ins Zimmer stürmte.
„Hör gefälligst auf mit den Türen zu schlagen“, befahl er mir unwirsch, „und hab etwas Respekt vor diesem alten Haus! Gewiss hat es weitaus mehr gesehen, als wir es jemals für möglich halten.“
Wie vom Donner gerührt stand ich da und blickte meinem Vater erschrocken ins Antlitz. Sicherlich wäre mir durchaus das Recht anheimgefallen an dieser Stelle meine Unschuld zu beteuern, doch war es mir nicht möglich nur einen einzigen Ton aus mir heraus zu pressen. Stattdessen nickte ich kleinlaut, während sich mein Verstand einem Ertrinkenden gleich an den Irrglauben klammerte, dass das Gesehene rational zu erklären sei. Aber trotz allem … wo ich es zuvor noch mit einem unguten Gefühl zu tun hatte, war dieses Empfinden mittlerweile zu einer schwelenden Furcht herangewachsen.
Nach dem Diner war der Schrecken halbwegs von mir abgefallen und als uns Mutter für einen abendlichen Spaziergang am unweit gelegenen See aus dem Haus lockte, verblasste die Erinnerung an die ghoulischen Ereignisse sogar vollends. Ich dachte nicht mehr daran, als man mich gegen zweiundzwanzig Uhr zu Bett schickte, und schlief ob den positiven Strapazen des hinter mir liegenden Tages sofort ein … doch dieser Frieden bestand lediglich aus Raten, wie mir bald schon gewahr werden sollte. Es musste weit nach Mitternacht gewesen sein, als mich das dumpfe Knarren von schweren Schritten auf morschen Bodendielen aus dem tiefen Schlaf riss. Anfangs glaubte ich es müsse Vater sein, der wie in jeder Nacht für ein kleines Geschäft und einen Schluck Wasser das Badezimmer aufsuchte, doch je wacher meine schlaftrunkenen Sinne wurden, desto eingehender wurde mir die grausige Erkenntnis zuteil, dass die Schrittlaute keinesfalls auf dem Flur vor meiner Stube ihren Ursprung fanden. Viel mehr verhallten die rumpelnden Geräusche über mir, auf dem Dachboden, von dem mich nur eine marode, morsche Zimmerdecke trennte. Schlagartig wurde das Blut in meinen Adern klamm, während ich ob Furcht gelähmt in meinem Bett lag und den unheilschwangeren Schritten lauschte, die knapp zwei Meter über meinem Kopf zielstrebig einher marschierten. Der Rest des Hauses war in ein solch bedrückendes Schweigen gehüllt, dass man dem Glauben hätte erliegen können die Welt höchst selbst habe den Atem angehalten, nur um diesem mysteriöse Gerumpel auf dem Dachboden die Möglichkeit zu geben tief in die Eingeweide des Darkriver – Anwesens vorzudringen. Unweigerlich stellte ich mir die Frage, ob meine Eltern und Geschwister nicht ebenfalls von den grausigen Schrittgeräuschen erwacht waren, nur um ihnen – gleich wie ich – sorgenvoll zu lauschen. Dass die beunruhigende Stille im Haus auf dem Hügel anhielt, verriet mir schnell, dass dem nicht so war und als ich meinen Eltern am Frühstückstisch von den seltsamen Gegebenheiten der letzten Nacht erzählte, tat man meine Erlebnisse als Hirngespinste einer blühenden Fantasie ab.
Mein Vater war immer ein sehr sachlicher Mensch gewesen. Gewiss wollte er daran glauben, dass die unheimlichen Laute nach Mitternacht ausschliesslich ein Produkt meiner Fantasie waren. Seine unbarmherzige Weigerung sich mit meinen Gefühlen auseinanderzusetzen, brachte mich in Rage, wobei ich mir nichts sehnlicher wünschte, als das Wochenende frühzeitig abzubrechen, um Jerusalem´s Lot für immer den Rücken zu kehren. Immerhin zeigte sich Mutter gutherzig und warf einen Blick auf den Dachboden, doch die Tatsache, dass da oben nichts Aussergewöhnliches zu sehen gewesen war, wusste mein aufgewühltes Gemüt mitnichten zu beruhigen.
Bereits nach dem Frühstück hatte meine Laune den absoluten Tiefpunkt erreicht. Trotzdem willigte ich ein die Familie beim Grosseinkauf fürs Wochenende zu unterstützen. Dazu war ein Ausflug in den nächstgelegenen Weiler notwendig, welches gut und gern eine halbe Stunde vom Darkriver – House entfernt lag. Ich meine mich zu entsinnen, dass Mutter Zuhause blieb, wohl um das Anwesen einmal ordentlich durchzulüften und vom Staub zu befreien, der wie Gezeitensand über Jahrzehnte hinweg auf das antike Inventar nieder gerieselt war. Ebenfalls erinnere ich mich an Mutters fahles Antlitz, als wir am frühen Nachmittag wiederkehrten. Wir fanden sie verstört auf der hölzernen Verandatreppe sitzend vor, wobei sie sich anfangs sogar weigerte auch nur einen einzigen Schritt über die Schwelle dieses Hauses zu tun. Etwas musste diese sonst so taffe Frau bis aufs Mark erschüttert haben, was mich schlagartig zu der Erkenntnis brachte, dass ihr die vermeintliche Traumresidenz – gleich wie mir – eine höllische Angst einjagte. Leider sollten wir Kinder nie in Erfahrung bringen, was sie so sehr zu erschrecken wusste, und in Anbetracht dessen, dass der Tag noch weitaus seltsamere Geschehnisse für uns bereithielt, geriet die Frage danach ganz einfach in Vergessenheit.
An diesem Freitagnachmittag im Spätherbst sah ich meinen Vater nämlich zum ersten Mal zur Flasche greifen. Als gebranntes Kind eines schwer alkoholabhängigen Bauarbeiters war ihm das Trinken stets zuwider gewesen. Noch heute stelle ich mir die Frage, was ihn gerade dann dazu bewog an besagtem Tag aus heiterem Himmel so tief ins Glas zu blicken. Ein heimlicher Lauschangriff auf meine Eltern brachte nur vage Licht ins Dunkel, doch vernahm ich auf diese Weise Mutters Flehen keine weitere Stunde im Haus auf dem Hügel verbringen zu müssen. Vater offenbarte ihr bei diesem Gespräch jene bittere Wahrheit, die Gunst des Ausfluges genutzt zu haben, um bei der örtlichen Bank eine Anzahlung auf das Anwesen zu leisten. Sein Entschluss, der da lautete in Jerusalem´s Lot ein neues Leben zu beginnen, stand für den Herrn des Hauses fest und er war keinesfalls bereit den Traum vom soliden Eigenheim so schnell wieder zu begraben. Volltrunken bedrohte er meine Mutter, setzte sie körperlich und seelisch unter Druck, während ich starr vor Schreck in meinem Versteck jedes einzelne Wort vernahm, das in der Hitze des Momentes gefallen war. Natürlich gab es zwischen meinen Eltern zuvor schon dann und wann das eine oder andere hitzige Gespräch, welches uns Kindern mitnichten entgangen war, doch was sich in dieser angehenden Nacht zwischen den beiden abspielte, war mit keinem vorhergehenden Streit zu vergleichen. Damals wusste ich nicht, was ich denken sollte, aber heute, wenn ich als erwachsene Frau zurückblicke, gibt es für mich keinen Zweifel daran, dass mein alter Herr von jenen dunklen Mächten aufgestachelt war, die unweigerlich durch das gespenstische Anwesen pulsierten. Vaters unerwartet heftig ausfallender Wutausbruch auf Mutters Flehen verstörte mich zutiefst. Ich war nicht in der Lage zu verstehen, was in jenen ehrenhaften Mann gefahren war, zu dem ich Zeit meines bisherigen Lebens mit Stolz aufgeblickt habe.
Die Sorge um meine Eltern, gepaart mit den unheilvollen Erfahrungen die mir an diesem Ort zuteilgeworden sind, machte es mir in dieser Nacht undenkbar schwer zur Ruhe zu kommen. Letztlich gelang es mir aufgrund schierer Erschöpfung doch noch in einen unruhigen Dämmerschlaf hinüberzugleiten, aus dem ich jäh erwachen sollte, als eine eisige Berührung über meine Wange streichelte. Ich musste meine Augen nicht öffnen, um zu wissen, dass diese nahezu zärtliche Liebkosung nichts Menschlichem anheimfiel. Dennoch schossen meine Augenlider rasch empor und was mein Blick erfasste, sollte meine Sicht auf die Welt völlig auf den Kopf stellen. Nennen Sie mich eine Lügnerin, verehrter Leser, doch sah ich, was ich sah: Über mir schwebte eine totenbleiche, weissgewandete und geisterhafte Frau. Ihr langes, graues Haar tänzelte in den Wogen eines nicht vorhandenen Windstosses, während ihr gebrochener, blutunterlaufener Blick eisig auf mich hernieder starrte. Er tat mir nichts, der Geist im weissen Nachtgewand, von dem ich heute schätze, dass es in den zwanziger Jahren sicherlich absolut in Mode gewesen sein könnte. Lediglich blickte sie mit ihren fahlen Seelenspiegeln, die ein leidvolles Leben offenbarten, auf mich herab. Obgleich sich mir das unheimliche Wesen nur einen kurzen Moment zeigte, waren die verstrichenen Sekunden gefühlten Stunden gleich. Starr vor Schreck blickte ich zu ihr empor, während der panische Schrei, der mir unweigerlich auf den Lippen lag, in meiner Kehle stecken blieb. Ja, es war mir nicht möglich der Todesangst freien Lauf zu lassen, die mit jedem kräftigen Herzschlag schonungslos durch meine Adern pumpte. Es schien, als wäre dieser schaurige Blick des Geistes dazu befähigt jede Faser meines dereinst jungen Körpers zu lähmen. Und von einem panischen Lidschlag zum nächsten … war sie fort!
Meine Schockstarre hielt noch eine nicht enden wollende Ewigkeit an, doch als es mir gelang mich neuerlich zu rühren, rannte ich wie vom Wahnsinn gepackt aus meiner Stube. Mein Ziel war das elterliche Schlafgemach, doch da erwartete mich weder Verständnis noch Trost. Nachdem ich meine Geschichte zum Besten gegeben hatte, schickte mich Vater schlafen und verbot seiner Frau jegliche Einmischung. Nach der Eskalation ihrer Streitgespräche am Vorabend fürchtete sich Mutter wohl zu sehr vor ihm, um sich seiner Anweisung zu widersetzen. Ich durchlebte nur wenige Minuten zuvor ein traumatisches Erlebnis und meine Eltern schickten mich zurück ins Bett! Es war naheliegend, dass mir nichts ferner lag als jemals wieder einen einzigen Tritt in diesem verfluchten Zimmer verklingen zu lassen. In all den Jahren ist es mir obendrein nie zur Gänze gelungen diesen einen Moment zu vergessen, jenen Augenblick, als Vater mir die Zuflucht verwehrte, die ich so dringend benötigt hätte. Sein Verhalten verletzte mich tief, so sehr, dass sich nach dieser Nacht nie wieder ein liebevolles Verhältnis zwischen uns hätte entwickeln können. So blieb mir nichts anderes übrig, als die schier endlosen Stunden bis zum Morgengrauen einsam und verängstigt auf dem Sofa im Wohnzimmer auszuharren. Fürwahr liess der neue Tag dann auch noch viel zu lange auf sich warten, wobei mein aufgewühltes Gemüt selbst dann nicht zur Ruhe kam, als sich die ersten fahlen Sonnenstrahlen im milchigen Fensterglas des alten Hauses auf dem Hügel brachen.
Was folgte war ein unterkühltes Frühstückritual, bei dem sich ein jeder lediglich in eisiges Schweigen zu hüllen wusste. Niemand sprach ein Wort. Nicht einmal der jüngste Anhang der Familie, der sich für gewöhnlich schon am frühsten Morgen den Mund zerreissen konnte, vermochte es der unnatürliche Stille im Raum Einhalt zu gebieten. Am ehesten entsinne ich mich einmal mehr an Vater und noch heute kommt in mir die Frage auf, wie sich ein Mann seines Schlags in solch atemberaubender Geschwindigkeit verändern konnte. An diesem Samstagmorgen war er lediglich ein Schatten seiner selbst, weit fern von jener gutherzigen Seele, die stets für jedes Mitglied der Familie ein offenes Ohr besessen hat. Sein Antlitz war bleich, wobei er sich mit seinen blutunterlaufenen Seelenspiegeln und den fetten, schwarzen Augenringen kaum noch von dem differenzierte, was mir in der Nacht zuvor einen höllischen Schrecken eingejagt hatte.
Obgleich ein strahlendschöner Tag in Jerusalem´s Lot auf uns wartete, beschlossen meine Eltern kurz nach dem Frühstück den Samstag im Innern des Haus zu verbringen, was die Stimmung innerhalb der Familie zur Gänze gen Nullpunkt trieb. Während sich Mutter ins elterliche Schlafgemach zurückzog und sich Vater – was mir damals äusserst seltsam erschien – etliche Stunden auf dem Dachboden verbarrikadierte, bliesen wir Kinder Trübsal. Zudem war es zu erwarten gewesen, dass mir die Erinnerung an den schaurigen Geist auch während der hellen Stunden ein steter Begleiter war! Je tiefer die rote Sonnenkugel hinter den westlichen Bergkuppen niedersank, desto eingehender fühlte ich wie die emporkriechende Angst in mir jede Hoffnung, nicht noch eine Nacht in diesem Haus verbringen zu müssen, im Keim zu ersticken drohte. Ein markerschütterndes Rumpeln aus dem Obergeschoss, gefolgt von einem erstickten Aufschrei, riss uns Kinder alle gleichermassen aus tristen Gedankengängen. Aufgeschreckt wie junge Küken sahen wir uns entgegen, doch keiner von uns wagte es nur einen kleinen Mucks von sich zu geben. Angespannt lauschten wir, harrten den Dingen die da unheilschwanger auf uns zukommen mussten, doch vernahmen wir lediglich jene unnatürliche Stille, die sich seit dem Einzug im Darkriver – House einem schwarzen Tuch gleich nach und nach über unsere Seelen gebettet hat.
„Das muss der Wind gewesen sein“, klingen die Worte meiner ältesten Schwester noch heute in den Erinnerungen wieder. „Es ist eben ein zugiges, altes Haus“, fügte sie sodann hinzu und obwohl ihre Stimme grosse Zweifel am Wahrheitsgehalt des Gesagten andeutete, tat sie ihr Bestes das Trugbild eines wunderbaren Wochenendes für die Jüngsten der Familie aufrecht zu halten. Ich für meinen Teil war mir sicher, dass das Gehörte nicht dem Wind zur Last gelegt werden konnte, sondern jenem mystischen Wesen, das mir in den dunkelsten Stunden des gestrigen Abends erschienen war. Dennoch schwieg ich mich aus, bis mein Vater zu jenem Diner rief, an dem Mutter Zeit meines Lebens zum ersten Mal nicht teilnahm. Natürlich wunderten wir uns über ihr Fehlen sehr, wagten es aber kaum uns zu erkundigen was ihr denn fehle, als wir mit der plumpen Anmerkung abgespeist wurden, dass sie sich nicht besonders wohl fühle. Nach dem schlimmen Elternstreit, der das Haus am Vorabend schier zum Erzittern brachte, konnte ich ihr die anhaltende Appetitlosigkeit durchaus nachempfinden … konnte das aber tatsächlich der Grund einer liebenden Mutter sein – frage ich mich bis heute stets aufs Neue – beim Abendessen nicht bei ihren Kindern zu sein? Mittlerweile glaube ich allerdings zu wissen, dass meine Mutter zum Zeitpunkt dieses Diners schon längst nicht mehr unter den Lebenden weilte.
Nach dem Abendessen, an dem Vater apart teilnahm und welches einen seltsam bitteren Beigeschmack in sich trug, fühlte ich eine ungewöhnlich starke Müdigkeit über mich hereinbrechen. Nach den letzten beiden nahezu schlaflosen Nächten zuvor wurde mein Körper zwar schon seit den frühen Morgenstunden von einer stetigen Erschöpfung beherrscht, doch nun fühlten sich meine Glieder regelrecht bleiern an. Gleichwohl ich mit aller Gewalt versuchte wach zu bleiben, erlag ich noch am Tisch einem tiefen, traumlosen Schlaf. Heute bin ich für die Tatsache dankbar, nicht mitbekommen zu haben wie Vater – oder das was zu diesem Zeitpunkt noch von seiner Seele übrig war – meine Geschwister getrieben vom schieren Wahnsinn auf den Dachboden schleifte, um sie allesamt am robusten Querbalken der Grösse nach aufknüpfte. Es war ihm ein Leichtes, wie sich mir im Nachhinein erschloss, sorgten die schnellwirkenden Betäubungsmittel im Abendmahl schliesslich auch dafür, das weder meine Geschwister noch ich dem Grauen Einhalt gebieten konnten, welches uns an diesem Punkt meiner Geschichte unweigerlich zuteilgeworden ist. So starben die meisten von uns jenen gnadenlosen, aber keinesfalls schmerzvollen Tot, den Vater etliche Stunden geplant haben muss. Noch heute ist es mir ein grauenhaftes Rätsel, was meinen alten Herrn dazu bewog den ganzen Tag im obersten Stockwerk zu verbringen, doch bin ich mir sicher, dass der erstickte Schrei, den wir am späten Nachmittag so schaurig vernommen haben, von meiner Mutter stammte … dem ersten Opfer eines überaus verwirrten Mannes, der sich kurz nach seiner grauenvollen Tat mit einem Messer die Pulsadern öffnete und mit seinen hängenden Familie im Blick qualvoll zugrunde ging.
Gleichfalls ist mir seit dieser fürchterlichen Nacht ein Mysterium, weshalb mich Vater verschont hat, so wachte ich kurz vor dem Morgengrauen mit heftigen Kopfschmerzen und auf dem hölzernen Boden des Dachbodens liegend auf. Als erstes kroch der Gestank von geronnenem Blut durch den Äther meines vernebelnden Verstandes, doch bis ich das Ausmass jenes Grauens, welches sich während der dunkelsten Stunden im Darkriver – House zugetragen hat, verstanden habe, verging eine gefühlte Ewigkeit. Noch heute sind mir die leblosen Körper meiner Familie in den Träumen stete Begleiter, deren gebrochenen Blicke und die an Stricken baumelnden Leiber, die sich flüssigem, brennendem Eisen gleich in mein Gedankengut gefressen haben.
Es war die Maklerin des Hauses, die mich am späten Morgen des besagten Tages völlig verstört in der Dachstube vorfand und sofort die Polizei involvierte. Erst viel später sagte man mir, dass ich einem Schock erlegen sein musste, der mich dazu zwang Stunde um Stunde wie aus Stein gemeisselt auf die sterblichen Überreste meiner Familie zu blicken. Man brachte mich fort aus Jerusalem´s Lot und ich lebte fortan an der Küste Neuenglands bei meinen Grosseltern, doch ganz gleich was man tat, um mich das Grauen im Haus auf dem Hügel vergessen zu lassen, ein Teil meiner selbst durchlebt dieses Wochenende noch heute stets aufs Neue. Anstatt zu verdrängen was mir widerfuhr, oder es gar zu verarbeiten, entwickelte ich eine regelrechte Besessenheit. Deswegen erfuhr ich ein paar Jahre später auch, dass mein Vater nicht der einzige war, der auf jenem verwaisten Grundstück diesem unerklärlich bestialischen Mordtrieb erlegen war. Vor und nach jenen Tagen im Spätherbst 83 sind mindestens drei weitere Familien auf ein und dieselbe Weise verendet, sodass man beschlossen hatte das Grundstück ende der achtziger Jahre abzureissen. Auffällig daran ist gewiss, dass stets einer der Beteiligten lebend aus den schrecklichen Homiziden hervorgegangen ist und nach intensiveren Nachforschungen konnte ich sogar deren Namen ausfindig machen, doch war keiner von ihnen gewillt meiner Kontaktaufnahme Folge zu leisten.
So fand meine Familie also die letzte Ruhestätte in Jerusalem´s Lot. Der Friedhof liegt auf der Anhöhe. Ich habe das Niederschreiben dieser Geschichte zum Anlass genommen an den Ort der unheilschwangeren Geschehnisse zurückzukehren, doch hat sich mit diesem düsteren Ausflug das unausgesprochene Sehnen nach der Wahrheit noch tiefer in mein Herz gefressen. Irgendwann, so schwöre ich mir heute am Fusse des Familiengrabes, werde ich herausfinden was meinen Vater dazu bewogen hat mir alles zu nehmen, was mir dereinst lieb und teuer gewesen ist. Eines aber, verehrter Leser, hat mich die Vergangenheit bereits gelehrt; Zwischen der Welt, die wir sehen und der, die wir fürchten, gibt es Türen. Und wenn wir sie öffnen, werden Albträume wahr!
Geschrieben Oktober 2015